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Leon

Es klingelte. Ich schlich zur Tür. Herr Tellerle oder Leon? „Wer ist da?“ fragte ich und fühlte mich wie eine Fünfjährige, der die Mama gesagt hatte, sie solle ja keinem Fremden die Tür öffnen. Auf der anderen Seite lachte es. Herr Tellerle, so viel war sicher, lachte nicht. Ich öffnete.

Leon stand in der Tür. An den Beinen trug er etwas, das mich an die Strumpfhosen erinnerte, die ich als Kind an kalten Tagen unter dem Sonntagskleidchen getragen hatte, und außerdem irgendwelche gepolsterten Hightech-Schuhe, die auch in die Enterprise gepasst hätten. Das Höschen lag eng an und verbarg nichts. Ich schluckte. Leon hüpfte vor mir auf und ab wie ein Gummiball.

„Hallo Line. Warum machst du so ein Theater? Ich dachte wir gehen joggen.“
Ich starrte ihn an. „Du wirst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich zu den Bekloppten gehöre, die durch den Wald rennen und dann auch noch behaupten, sie würden sich gut dabei fühlen?“
„Nun, ich dachte, wo du doch so dünn bist machst du sicher viel Sport.“
„Leon, hier liegt ein schrecklicher Irrtum vor. Ich bin nicht dünn, weil ich Sport mache, sondern weil mein Stoffwechsel bei meiner Geburt beschlossen hat, dass ich fünf Salamipizzen, drei Hamburger und eine Portion Pommes Extralarge mit doppeltem Ketchup auf einmal verdrücken kann, ohne am nächsten Tag auch nur ein Gramm mehr auf die Waage zu bringen. Ich bin ein medizinisches Phänomen. Das letzte Mal habe ich Sport gemacht... lass‘ mich nachdenken... das muss in der Schule gewesen sein. Wir sollten einen Felgaufschwung machen und es gab Noten dafür. Ich zapple da also am Holmen `rum, komme nicht hoch, die Lehrerin schüttelt den Kopf, murmelt irgendwas von hoffnungslosem Fall und gibt mir eine vier.“

Leon sah etwas enttäuscht aus. Dann hellte sich seine Miene auf. „Na, was nicht ist, kann ja noch werden. Du wirst sehen, dass es Spaß macht und du nach spätestens 15 Minuten Endorphine ausschüttest.“
„Leon, ich weiß nicht, was Endorphine sind, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie nicht in den Stuttgarter Wald schütten will, und wahrscheinlich muss man Strafe zahlen, wenn man dabei erwischt wird.“
„Endorphine sind Glückshormone. Laufen macht glücklich.“
„Maultaschen am Samstagabend machen glücklich. Wie kann es glücklich machen, bei 10 Grad minus durch die Kälte zu rennen?“
„Es hat keine 10 Grad minus. Es ist über null und taut. Und ich glaube, dass du einfach feige bist.“ Er sah mich herausfordernd an.
„Da hast du vollkommen Recht. Außerdem habe ich nicht mal was anzuziehen.“
Einen Moment lang sagte Leon nichts und grinste nur. Er spürte genau, dass mein Widerstand im Wanken war. Innerlich kämpfte ich einen fürchterlichen Kampf. Ich hatte mir doch vorgenommen, von Leon Abstand zu halten! Aber die Vorstellung, ungehindert auf sein knackiges Hinterteil glotzen zu können, trug entscheidend dazu bei, dass ich schließlich seufzte und sagte, „okay, gib‘ mir fünf Minuten, um mich umzuziehen.“ Leon salutierte und verschwand in seiner Wohnung, wahrscheinlich, um dort irgendwelche lächerlichen Aufwärmübungen zu machen.

Da ich keine Jogginghose besaß, zog ich zwei Leggins übereinander und die knielangen Strümpfe mit dem Norwegermuster darüber. Ich fand noch ein paar alte Turnschuhe, die ich wohl irgendwann zum Streichen benutzt haben musste, weil sie voller gelber Farbkleckse waren. Regenjacke, Stirnband und Vlieshandschuhe – gar nicht schlecht. Ich lächelte meinem Spiegelbild zu. Es zeigte mir eine Vollblutprofijoggerin.

Ich klingelte bei Leon. Er musterte meinen Aufzug kritisch. „Du bist viel zu warm angezogen.“ „Leon, es ist Winter, und ich komme nicht aus Hamburch!“
„Wie du meinst.“ Leon stürmte im Laufschritt die Treppe hinunter. Mir war nicht klar gewesen, dass die Trainingseinheit schon im Treppenhaus begann, und bis ich hinterher stolperte, hatte Leon schon einen gewaltigen strategischen Vorsprung. Wir polterten durchs Treppenhaus. Frau Müller-Thurgau riss die Tür auf, als ich auf dem Treppenabsatz zwischen Stock vier und drei war. „Isch was bassiert, brauche mr d`Feierwehr?“ rief sie.
„Nein, nein, alles okay“, antwortete ich atemlos. Prima, schon nach anderthalb Stockwerken bergab ging mir die Puste aus.

Leon wartete vor der Haustür. Kaum war ich bei ihm angekommen, stürmte er durch die winzige Lücke zwischen dem 92er-Bus und einem Mercedes über die Reinsburgstraße, ich folgte ihm auf dem Fuß. Reifen quietschten. Nach ein paar Minuten hatten wir die Staffel erreicht, die zur Hasenbergsteige führte. Leon nahm die Stufen in lockerem Trab. Sein knackiger Hintern war nach drei Sekunden aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich keuchte die Treppe hinauf. Staffeln gehörten zur Topographie Stuttgarts wie Käse zu den Kässpätzle. Eigentlich mochte ich sie. Ich hatte sie bisher aber auch noch nicht zu Trainingszwecken benutzt. Aus der schicken Villa auf der rechten Seite, in der eine Anwaltskanzlei residierte, trat eine Frau in einem eleganten Ledermantel und sah mich mitleidig an.

Leon hüpfte oben an der Staffel locker auf und ab. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Ich hatte Seitenstechen, aus meinem Mund kamen seltsame Pfeiftöne, der Schweiß rann mir über den Rücken und ja, ich war viel zu warm angezogen.
„Leon...pffff... geht es vielleicht für den Anfang ein bisschen langsamer?“
„Ja, natürlich. Ich hätte nicht gedacht, dass du SOO schlecht in Form bist.“
„Na hör‘ mal“, ächzte ich empört. „Hast du schon mal davon gehört, dass man positiv motivieren soll?“ Leon lachte. „Du hast Recht. Also, um es positiv zu formulieren: Frau Müller-Thurgau würde sicher noch länger hier hoch brauchen, besonders, wenn sie ihre rosa Doris-Day-Pantöffelchen trägt.“

Anstatt zu antworten schnaubte ich nur. Immerhin ging Leon jetzt in normalem Schrittttempo die Hasenbergsteige hinauf. Allerdings war die Hasenbergsteige vor der Erfindung des Automobils ein beliebter Schlittenhang gewesen, weil sie eine Steigung hatte wie das Matterhorn. Leons normales Schritttempo war nicht matterhorngenormt.

Ein Läufer kam uns entgegen. Er schien gerade Glückshormone auszuschütten, dass es nur so krachte, weil auf seinem Gesicht ein vollkommen idiotisches und glückseliges Lächeln lag. Wir bogen in den Blauen Weg ein und die Verschnaufpause war vorbei. Der Blaue Weg war theoretisch ein entspannter Spazierweg in Halbhöhenlage, umgeben von idyllischen Schrebergärten und mit einem wunderbaren Blick hinunter nach Heslach. Wenn man Augen dafür hatte. Leon hatte entweder keine Augen dafür oder war hier schon millionenmal gejoggt, denn er fiel wieder in lockeren Trab. Diesmal lief er aber nicht davon, sondern blieb neben mir, um mir Instruktionen zu geben. „Gaaanz ruhig durch die Nase ein- und durch den Mund ausatmen... du musst deinen eigenen Rhythmus finden... ja, gut so...“

Die kalte Luft drückte beim Einatmen schmerzhaft gegen meine Lungen. Ich lauschte Leons Instruktionen und versuchte gleichzeitig, nicht in allzu viele Pfützen zu patschen, weil es tatsächlich taute und der Schnee auf dem Weg sich in Matsch verwandelt hatte. Nach wenigen Minuten waren meine morschen alten Turnschuhe durchnässt und die Feuchtigkeit arbeitete sich durch die Strümpfe. Nach einer Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, erreichten wir die Schranke am Ende des Asphaltwegs. Leon, der offensichtlich kein bisschen angestrengt war, sagte, „Ich laufe mal ein Stückchen vor und komme dann zurück. Dann kannst du in deinem eigenen Tempo laufen und fühlst dich nicht unter Druck gesetzt.“

Ich nickte nur. Sprechen konnte ich nicht mehr. Mühelos nahm Leon hinter der Schranke die Anhöhe zum Wald und nach kurzer Zeit war er nicht mehr zu sehen. Ich blieb stehen, hielt mir die Seiten und atmete tief durch. Leon tauchte aus dem Nichts wieder auf und brüllte, „Nicht stehenbleiben, das ist total ungesund!“, drehte wieder ab und raste weiter. Ich setzte mich langsam wieder in Bewegung. Toll, dieses Lauftraining. Meine Lungen brannten, ich hatte pitschnasse Füße und würde mir den Tod holen und mein Lauftrainer war ein verdeckter Stasimitarbeiter, der mich keine Sekunde unbeobachtet ließ. Und das sollte gesund sein?

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