Leseprobe Brezeltango

1. Kapitel

Der Mann, der zu mir passt, hat einen kleinen Bauch,
eine Brille und womöglich eine Glatze auch
am Abend trinkt er Bier und schnarcht danach,
liegt man neben ihm, so bleibt man lange wach.

"Mama, ich hab' Hunger!"
"Gleich, Schatz. Ich muss zuerst deine Schwester wickeln."
"Ich hab' aber jetzt Hunger!"
"Dann sag's deinem Vater."
Ich atmete tief durch, wischte mir die fettigen Hände an meiner Schürze ab, nahm das Baby hoch und ging ins Wohnzimmer. Leon lag auf der Couch, eine halb leere Bierflasche in der Hand, und las den Kicker. Die beiden auf dem Teppich liegenden leeren Flaschen sahen aus, als würde hier demnächst Flaschendrehen gespielt. Es waren nur noch nicht genug Leute da.
"Leon!"
"Hmm." Leon positionierte die Bierflasche, ohne hinzusehen, auf dem Gipfel des Bauchbergs unter seinem T-Shirt und konzentrierte sich weiter auf den Kicker. Das T-Shirt war so fleckig, dass man die Aufschrift "Bosch - Technik fürs Leben" kaum noch entziffern konnte.
"Leon, ich muss die Kleine wickeln und die Wäsche aufhängen. Machst du Leander was zu essen, er hat Hunger."
"Hmja." Leon rülpste dezent.
"Leon!"
"Hmja?"
"Leon, hörst du mir überhaupt zu?"
"Klar. Ich will nur eben den Artikel über den HSV zu Ende lesen. Dauert nur eine Sekunde."

Leander hatte leider nicht die nordisch-entspannte Natur seines Vaters geerbt und ging jetzt auf Stufe zwei, markerschütterndes Gebrüll. "ICH - HAB' - HUNGER!" Leon drehte irritiert den Kopf in Richtung Küche. Die Bierflasche wackelte eine Millisekunde und kippte dann seitlich vom Bauchberg weg auf den Boden. Eine halbe Flasche Dinkelacker plätscherte über den zerschlissenen Teppich. Leon fuhr vom Sofa hoch und zermalmte ein paar hässliche Flüche zwischen Ober- und Unterkiefer, während Leander auf Stufe drei ging: markerschütterndes Gebrüll plus Aufreißen und Zudonnern von Küchenschranktüren.

Ich wartete nicht auf Stufe vier. Ich verschob das Wickeln und floh mit dem Baby auf dem Arm aus der Wohnung im fünften Stock hinunter in den Keller. Vierter Stock. Frau Müller-Thurgau, im rosa Jogging-Anzug, mit einer brennenden Zigarette in der Hand: "Sie, Frau Praetorius! Wasch'n des scho wiedr fir an Krach! A ganz' Mietshaus tirannisiere!" Ich rannte weiter. Dritter Stock, Herr Tellerle drohte mit der Faust. "Koi Ricksichd auf ons alde Leit!" Zweiter Stock. Menschen, die ich noch nie gesehen hatte, zeigten mit dem Finger auf mich, zeterten und tobten, zerrten an mir und dem Baby, brüllten und schrien durcheinander: "Overschämd! Zu onsrer Zeit hätt's des net gäba! Kennad Sie ihre Kender net erzieha? Ond Kehrwoch' aständig macha?" Endlich, der Keller, die Waschküche! Ich drängte die wütende Meute hinaus, donnerte die Tür zu, schloss mit dem rostigen Schlüssel ab und drehte mich um. Aus der Waschmaschine quoll Wäsche, eine unendliche Menge an Stramplern, Höschen und Hemden, Leons Hemden, die ich alle sorgfältig würde bügeln müssen, damit er ordentlich zu Bosch ins G'schäft gehen konnte, Wäsche, immer mehr Wäsche, es nahm kein Ende, das Baby brüllte jetzt wie am Spieß, der Wäschestrom floss unaufhaltsam auf uns zu, bloß raus hier! Aber vor der Kellertür stand der Mob und versuchte die Tür einzuschlagen, das Holz splitterte, ein Besenstiel brach durch das Loch, Herr Tellerle lachte irre, ich schrie, wich zurück und stürzte, der riesige Kleiderberg deckte mich und das Baby zu, ich schrie verzweifelt, aber niemand kam mir zu Hilfe, die Wäsche hüllte mich ein in die unendliche, feuchte Dunkelheit einer Waschküche im Stuttgarter Westen, aus der es kein Entrinnen gab...

"Line, wach' auf!"
Ich fuhr schwer atmend hoch. Beruhigend legte sich eine Hand auf meinen Rücken und fuhr sanft auf und ab.
"Sch... ganz ruhig, Line, du hast nur schlecht geträumt!"
Ich ließ mich erleichtert wieder in die Kissen fallen. Leon drückte mir einen Kuss auf die Stirn und flüsterte: "Du hast im Schlaf gestöhnt und geschrien. Du hast nicht zufällig von deinem feurigen Hamburger Liebhaber geträumt?"
Ich konnte Leons Grinsen im fahlen Licht des Sommermorgens deutlich vor mir sehen. Ich kannte niemanden, der so wie er jederzeit grinsen konnte, ohne vorher seine Gesichtsmuskeln aufzuwärmen, sogar gleich nach dem Aufwachen.
"Stimmt, ich habe von dir geträumt." Vielleicht nicht unbedingt das, was Leon sich so ausmalte. Aber sagte nicht jeder Ratgeber, dass man in einer Beziehung ein paar Geheimnisse für sich behalten sollte?
"Ach, wirklich?", flüsterte Leon und rückte näher an mich heran. Ich schob meine Hand auf seinen Bauch und seufzte erleichtert. Der Bauch war wie immer. Nicht der Mount Everest aus dem grässlichen Traum, sondern Leons kleiner, sympathischer Bauch an einem ansonsten vom Joggen durchtrainierten Körper. Leon nahm meine Hand und schob sie langsam tiefer, ganz allmählich entspannte ich mich und nur noch Leon und ich passten in das große Bett, der Albtraum hatte keinen Platz mehr…

Später lauschte ich Leons Schnarchen, nachtischlöffelchenmäßig an seinen Rücken gekuschelt. Leon schnarchte nicht richtig laut, es war mehr so ein Schnürpf-pffff, wie das leise Grunzen eines neugeborenen Ferkels. Sehr gemütlich. Ich würde versuchen, nicht mehr einzuschlafen. Draußen war es jetzt taghell, und bald würde der Wecker klingeln, weil Leon zu Bosch nach Schwieberdingen musste. Es war grauenhaft, aus dem Schlaf gerissen zu werden, wenn man gerade erst wieder eingeschlummert war. Ich fühlte mich dann den ganzen Tag wie ein Zombie. Stattdessen würde ich lieber wachbleiben und den Traum analysieren. Danach würde ich mich auf Zehenspitzen aus dem Schlafzimmer schleichen, duschen, beim Bäcker Laugenweckle holen, und wenn Leon aufstand, würde es nach frischem Kaffee duften und er würde sich selbst beglückwünschen, dass er so eine großartige, fürsorgliche Freundin hatte!

Als ich wieder aufwachte, lag ich allein in dem großen Bett. Kein Wunder. Der Wecker zeigte 10 Uhr. Auf dem Fußboden - da Leon keine Bücher las, benötigte er auch keinen Nachttisch - stand eine knallgelbe Thermoskanne, daneben eine Tasse, Milch, Zucker und ein Tellerchen mit Schokoladenkeksen. Verschlafen angelte ich nach dem Zettel, der unter der Tasse lag. "Guten Morgen, meine Süße. Du hast so fest geschlafen, dass ich dich nicht wecken wollte (kein Wunder - grins). Wir sehen uns heute Abend im Kino. Freu' mich auf Dich! Kuss, Leon." Darunter hatte er ein wackliges Herz gemalt. Okay. So viel zum Thema fürsorgliche Freundin. Ich goss mir Kaffee ein, kuschelte mich mit einem Schokokeks in der einen und der Kaffeetasse in der anderen Hand wieder in die Kissen und beschloss, erst aufzustehen, wenn ich den schrecklichen Traum vollständig durchdacht und ad acta gelegt hatte. Lila hatte mir mal aus einem Buch über Traumforschung vorgelesen. Darin stand, dass man alle Träume, die man nicht bewusst bearbeitete, immer wieder träumte, bis man endlich kapierte, was sie einem sagen wollten. Ha! Das würde mir nicht passieren. Reflektiert, wie ich war, würde ich dem grauenhaften Traum sofort den Garaus machen!

(…)

Hoppla, nun war ich ganz davon abgekommen, dass ich den bescheuerten Traum analysieren wollte. Ich schob mir einen Schokokeks in den Mund, schloss die Augen und konzentrierte mich, kam aber zu keinem Ergebnis, was die Message des Traums betraf. Leons tiefe Zuneigung hatte mein Leben verändert. Sogar das Katastrophen-Gen hatte sich einlullen lassen. Hurra! Ich würde ab jetzt ein ausgeglichener Mensch völlig ohne Chaos sein. Ich war ja schon viel ruhiger geworden. Die Natur war besiegt! Als ich Lila eifrig und stolz berichtete, dass wahre Liebe ganz eindeutig stärker war als genetische Anlagen, legte sie nur zweifelnd den Kopf schief und sagte nichts. Wahrscheinlich brauchte sie einfach ein bisschen Zeit, um sich umzustellen.

Leon hatte ich mein kleines Problemchen bisher noch nicht gebeichtet. Es gab schließlich überhaupt keinen Grund, einen soeben erworbenen Freund gleich wieder mit Hiobsbotschaften in die Flucht zu schlagen. Das Katastrophen-Gen war keine Krankheit, nur ein klitzekleiner genetischer Defekt, der manchmal ein bisschen Durcheinander produzierte oder aus heiterem Himmel Haushaltsgeräte lahmlegte. Deshalb war es sehr praktisch, einen handwerklich begabten Ingenieur zum Freund zu haben, der alles wieder reparieren konnte, sollte das Katastrophen-Gen überraschend aus seinem Dornröschenschlaf erwachen.

Warum bloß waren in dem doofen Traum Kinder aufgetaucht? Ich war vor kurzem 32 geworden, an Nachwuchs dachte ich nicht im Entferntesten. Ich hatte auch weitaus dringlichere Probleme zu lösen. Im Februar hatte ich meinen Job als Texterin bei einer Werbeagentur in der Rotebühlstraße im Stuttgarter Westen verloren. Ich bekam zwar Arbeitslosengeld und Leon, der als Ingenieur gut verdiente, lud mich oft großzügig ein, aber es war mir unangenehm, ihm auf der Tasche zu liegen, und die Arbeitslosigkeit machte mich rastlos und unzufrieden. In letzter Zeit hatte ich es zudem mit Bewerbungen ziemlich schleifen lassen. Höchste Zeit, sich am Riemen zu reißen! Gleich heute würde ich damit anfangen. Mit Schwung sprang ich aus dem Bett und schüttelte Leons Bettdecke auf. Leider vergaß ich dabei, dass ich Kekse mit Schokoladenüberzug gegessen hatte. Die braunen Flecken sahen ein bisschen unappetitlich aus. Aber stand nicht in vielen Kontaktanzeigen im Stadtmagazin LIFT, dass sich die Männer nach Frauen sehnten, die ihnen die Pullis klauten und das Bett vollkrümelten? Schokoflecken waren sicher genauso betörend!

Zwanzig Minuten später verließ ich frischgeduscht Leons Wohnung. Das Treppenhaus war zum Glück leer. Es hatte eine Weile gedauert, bis sich die Nachbarn daran gewöhnt hatten, dass ich nicht mehr im Haus wohnte, sondern als Besucherin kam. In schwäbischen Mietshäusern brauchten Veränderungen ihre Zeit. Vielleicht hatte es die Bewohner auch irritiert, dass nach meinem Auszug Leons Sandkastenfreundin und Arbeitskollegin Yvette eine Weile dynamisch durch den Flur gestöckelt war.

Ich öffnete die Tür zum Hinterhof, wo ich mein Rad abgestellt hatte. Es dauerte ein paar Sekunden, bis mein Gehirn die Szene einordnen konnte, die sich gerade im Hof abspielte. Mitten auf dem Asphalt stand die aufgeklappte grüne Papiertonne. In der Tonne stand Herr Tellerle aus dem 3. Stock und trampelte auf dem Tonneninhalt herum. Zumindest ließ sich das erahnen, weil man seine Beine nicht sehen konnte. Neben der Tonne stand ein nicht besonders zuverlässig aussehender Klappstuhl, den Herr Tellerle offensichtlich als Steighilfe benutzt hatte. Ziemlich gefährlich, schließlich war er nicht mehr der Jüngste. Vielleicht war Herr Tellerle in seinem früheren Leben Wengerter gewesen und stampfte deshalb das Papier wie Weintrauben in einem Bottich? Allerdings kam er ursprünglich von der Alb. Soweit ich wusste, war es dort für Wein zu rau.

"Guten Morgen, Herr Tellerle, alles in Ordnung?" fragte ich zögernd. Möglicherweise war das ein Rückfall in die Kindheit und er benötigte therapeutische Hilfe?
"Also om dreiviertel elfe isch dr Morga scho faschd vorbei. Ond en Ordnong isch gar nix, Frau Praetorius", keuchte Herr Tellerle. "Manche Leit kabiered oifach net, dass mr Babier zammafalda muss, damid's en Tonne bassd. Ond a Päckle muss mr hald ausnandrmacha, en Gott's Nama, noo gohd au mee nei en die Tonn. Ha des isch doch net zviel verlangd, oder!" Herr Tellerle stampfte wütend weiter. Der Anblick allein genügte, um mich wieder müde zu machen.
"Soll ich vielleicht noch einen Moment warten, bis Sie fertiggestampft haben, und Ihnen aus der Tonne heraushelfen?" fragte ich unsicher. Herr Tellerle und ich hatten, um es vorsichtig auszudrücken, ein eher distanziertes Verhältnis und ich konnte nicht einschätzen, ob er meine Hilfe annehmen würde. Andererseits wollte ich nicht, dass er sich beim Herausklettern aus der Tonne den Fuß brach, weil der Klappstuhl das tat, was sein eigentlicher Job war: Zusammenklappen.

Herr Tellerle schüttelte den Kopf und stampfte weiter. "I mach' weidr, au wenn mir scho d'Fieß wehdeen. S'isch no net gnug Blatz en dr Tonn."